Donnerstag, 13. August 2015

~ Geschichten erzählen mit Hesse ~

Donnerstag ist Hesse Tag ... zumindest dieser Donnerstag! :-)

Hier ein bemerkenswerter Auszug aus Demian:

Um meine Geschichte zu erzählen, muss ich weit vorn anfangen. 
Ich müsste, wäre es mir möglich, noch viel weiter zurückgehen, 
bis in die allerersten Jahre meiner Kindheit und noch über sie hinaus 
in die Ferne meiner Herkunft zurück.
Die Dichter, wenn sie Romane schreiben, pflegen so zu tun, 

als seien sie Gott und könnten irgendeine Menschengeschichte 
ganz und gar überblicken und begreifen und sie so darstellen, 
wie wenn Gott sie sich selber erzählte, ohne alle Schleier, überall wesentlich.
Das kann ich nicht, so wenig wie die Dichter es können. 

Meine Geschichte aber ist mir wichtiger als irgendeinem Dichter die seinige; 
denn sie ist meine eigene, und sie ist die Geschichte eines Menschen 
- nicht eines erfundenen, eines möglichen, eines idealen 
oder sonstwie nicht vorhandenen, sondern eines wirklichen, 
einmaligen, lebenden Menschen. 
Was das ist, ein wirklich lebender Mensch, das weiß man heute allerdings weniger als jemals, 
und man schießt denn auch die Menschen, deren jeder kostbarer, 
einmaliger Versuch der Natur ist, zu Mengen tot. 
Wären wir nicht noch mehr als einmalige Menschen, 
könnte man jeden von uns wirklich mit einer Flintenkugel 
ganz und gar aus der Welt schaffen, 
so hätte es keinen Sinn mehr Geschichten zu erzählen. 
Jeder Mensch aber ist nicht nur er selber, er ist auch der einmalige, ganz besondere, 
in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, 
wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder. 
Darum ist jedes Menschen Geschichte wichtig, ewig, göttlich, 
darum ist jeder Mensch so lange er irgend lebt und den Willen der Natur erfüllt, 
wunderbar und jeder Aufmerksamkeit würdig. 
In jedem ist der Geist Gestalt geworden, in jedem leidet die Kreatur, 
in jedem wird ein Erlöser gekreuzigt.
Wenige wissen heute, was der Mensch ist. 

Viele fühlen es und sterben darum leichter, wie ich leichter sterben werde, 
wenn ich diese Geschichte fertig geschrieben habe.
Einen Wissenden darf ich mich nicht nennen. 

Ich war ein Suchender und bin es noch, aber ich suche nicht mehr auf den Sternen 
und in den Büchern, ich beginne die Lehren zu hören, die mein Blut in mir rauscht.
Meine Geschichte ist nicht angenehm, sie ist nicht süß und harmonisch 

wie die erfundenen Geschichten, sie schmeckt nach Unsinn und Verwirrung, 
nach Wahnsinn und Traum wie das Leben aller Menschen, 
die sich nicht mehr belügen wollen.
Das Leben jeden Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, 

der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. 
Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen; 
jeder strebt dennoch es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder wie er kann. 
Jeder trägt Reste von seiner Geburt, Schleim und Eischalen einer Urwelt, 
bis zum Ende mit sich hin. 
Mancher wird niemals Mensch, bleibt Frosch, bleibt Eidechse, bleibt Ameise. 
Mancher ist oben Mensch und unten Fisch. 
Aber jeder ist ein Wurf der Natur nach dem Menschen hin. 
Uns allen sind die Herkünfte gemeinsam, die Mütter, 
wir alle kommen aus dem selben Schlunde; aber jeder strebt, 
ein Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziel zu. 
Wir können einander verstehen; aber deuten kann jeder nur sich selbst.

~ Hermann Hesse ~

 HERZlich ~ Daniela


1 Kommentar:

  1. Meine Windgesprächspartnerin wusste genau, weshalb sie mir Hesse "ans Herz" (auf meinen Tisch) legte..
    und ich ihn wieder und wieder hervorhole.
    DANKE
    das ich heute bei Dir auf ihn treffe
    Liebe Grüße zu Dir

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