Donnerstag, 20. August 2015

~ Ein Erbstück ~

Behäbig erhob sich die alte Dame aus ihrem Sessel.
Es war kurz nach eins, wie sie mit einem Blick auf die
Standuhr feststellte. Die hatte sie einst von ihrer Großmutter
geerbt und sich nie so richtig gefreut über diesen alten
Koloss, der zu jeder vollen Stunde einen Kirchenglocken ähnlichen
Ton ausstieß, vorausgesetzt man hatte sie aufgezogen.
Viele Jahre hatte sie es nicht getan, hatte dieses Ding
von Haus zu Haus geschleppt, mit jedem Umzug
wurde es ihr lästiger und doch konnte sich ihr Herz nie
ganz davon trennen. Zu viele Erinnerungen steckten darin.
Fasziniert hatte sie als Kind im Hause ihrer Großeltern
vor dieser Uhr gesessen und darauf gewartet, dass sie
erklang und dabei festgestellt, dass Stunden nicht gleich
vergingen, manche dauerten eine halbe Ewigkeit.
Je sehnlichster sie sich den erlösenden Klang herbeisehnte,
desto endloser erschien ihr die Wartetzeit.
Andere Stunden verflogen so schnell,
dass sie die Uhr gern angehalten hätte, sie verfluchte förmlich
den Zeitpunkt des Gongs, der merkwürdigerweise auch
nie ganz gleich klang in ihren Ohren.
Die Stunden verflogen wann immer Großvater ihr Geschichten
aus seiner Kindheit erzählte, ihre Großmutter mit ihr zusammen
das gemeinsam gepflückte Obst zu Marmelade, Kuchen und
Muß verarbeitete. Der Geruch nach frisch gebackenem Apfelkuchen
im Spätsommer, erfüllte den Raum.
Es waren nicht nur die Geräusche, auch die Gerüche ihrer Kindheit,
der Geschmack von frischer Heidelbeermarmelade,
die Erinnerung an unbeschwerte Tage auf dem Land,
in Wiesen und Feldern. Die vielen Stunden in denen ihre
Großmutter sie mit Worten von Fontane und Goethe "fütterte",
die ihr viele Jahre später noch einmal begegnen sollten
und von da an immer wieder.
Aber nicht ausschliesslich diese Erinnerungen,
verbargen sich in der Uhr, auch an Schmerz, Verlust
und Tod erinnerte sie. Nie würde sie den Tag vergessen,
an dem, ihr Großvater verschwand. Niemand wusste wohin,
er war fort und sollte nichtmehr zurück kehren,
sie sah ihre Großmutter daran zerbrechen.
Bis sie eines Tages auch ging, starb und ihr eben
diese Uhr vererbte, die sie nun durch ihr Leben
geschleppt hatte. Vorbei an Menschen,
Gebäuden, Gefühlen, Gedanken.
Wohin auch immer sie ging, diese Uhr begleitete sie.
Irgendeinen Platz fand sich immer für sie,
mal in der dunkelsten, verwinkeltesten Ecke eines
Raums und dann wieder in einem hell erleuchteten
Raum, von der Sonne angestrahlt.
All diese Erinnerungen in einer Uhr?
Sie würde nicht mehr umziehen,
das war ihr klar, was wohl dann aus der Uhr werden würde,
wollte sie sie traditionsbewusst an ihre Enkel weitergeben,
die sie womöglich aus lauter pflichtbewusstsein weitere
60 Jahre mit sich führten, oder sollte sie sie entsorgen,
weggeben, an Menschen, die sich an den alten filigranen
Schnitzereien erfreuten, die den niemals gleichen Klang mochten,
die der Uhr eine neue, eine weitere, eine eigene Geschichte geben
würden?


HERZlich ~ Daniela




1 Kommentar:

  1. Das sind schöne und GUTE Gedanken
    WolkenlosblaueHimmelsGrüße zu Dir

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