Freitag, 15. August 2014

~ AbschiedsWELLEN mit Khalil Gibran ~

Der Abschied

Und nun war es Abend. Und al-Mitra , die Seherin, sagte:
Gesegnet sei dieser Tag und dieser Ort und dein Geist, der geredet hat. 

Und er antwortete: War ich der Redner? War ich nicht auch ein Zuhörer? 
Dann ging er die Stufen des Tempels hinab, und alle folgten ihm. 
Und er erreichte sein Schiff und blieb auf dem Deck stehen. 
Und sich nochmals an die Menschen wendend, erhob er die Stimme und sagte:
Leute von Orfalis, der Wind gebietet mir, euch zu verlassen. 

Ich habe es weniger eilig als der Wind, doch ich muss gehen. 
Wir Wanderer, die immer den einsameren Weg suchen, beginnen keinen Tag, 
wo wir den letzten beendet haben, und kein Sonnenaufgang findet uns, 
wo der Sonnenuntergang uns verließ.
Selbst während die Erde schläft, reisen wir. 

Wir sind die Samen der beharrlichen Pflanze, 
und in unserer Reife und unserer Fülle des Herzens 
werden wir dem Wind preisgegeben und verstreut. 
Kurz waren meine Tage unter euch und kürzer noch die Worte, 
die ich gesprochen habe. 
Doch sollte meine Stimme in euren Ohren verklingen und meine Liebe eurer Erinnerung entschwinden, dann werde ich wiederkommen, und mit reicherem Herzen und dem Geist willfährigeren Lippen werde ich sprechen. Ja, ich werde wiederkehren mit der Flut, 
und mag der Tod mich verbergen und die größere Stille mich umhüllen, 
ich werde dennoch wieder euer Verstehen suchen.
Und nicht vergeblich werde ich suchen. 

Wenn etwas wahr ist, das ich gesagt habe, 
wird diese Wahrheit sich in einer klareren Stimme offenbaren und in Worten, 
die euren Gedanken enger verwandt sind. 
Ich fahre mit dem Wind, Leute von Orfalis, aber nicht in die Leere hinunter. 
Und wenn dieser Tag nicht eine Erfüllung eurer Bedürfnisse und meiner Liebe ist, 
dann lasst ihn ein Versprechen auf einen anderen Tag sein.
Die Bedürfnisse des Menschen ändern sich, 

aber nicht seine Liebe und nicht sein Wunsch, 
dass seine Liebe seine Bedürfnisse befriedigen sollte. 
Darum wisst, dass ich aus der größeren Stille zurückkehren werde. 
Der Nebel, der in der Morgenröte wegzieht und nichts als Tau auf den Feldern zurücklässt, 
wird emporsteigen und sich in einer Wolke sammeln und dann im Regen niederfallen.
Und nicht viel anders als der Nebel bin ich gewesen. 

In der Stille der Nacht bin ich durch eure Straßen gegangen, 
und mein Geist ist in eure Häuser eingekehrt. 
Und eure Herzschläge waren in meinem Herzen, 
und euer Atem war auf meinem Gesicht, 
und ich kannte euch alle. 
Ja, ich kannte eure Freude und euren Schmerz, und wenn ihr schlieft, 
waren eure Träume die meinen. Und oft war ich unter euch, ein See zwischen Bergen. 
Ich spiegelte die Gipfel in euch und die sich neigenden Abhänge 
und sogar die vorbeiziehenden Herden eurer Gedanken und eurer Wünsche. 
Und in meine Stille drang das Lachen eurer Kinder in Bächen 
und die Sehnsucht eurer Jugendlichen in Strömen. 
Und als sie meine Tiefen erreichten, 
hörten die Bäche und die Ströme noch nicht auf zu singen.
Aber Süßeres noch als Lachen und Größeres noch als Sehnsucht kam zu mir. 

Es war das Grenzenlose in euch, der unermessliche Mensch, 
in dem ihr nichts anderes seid als Zellen und Sehnen. 
Er, in dessen Gesang all euer Singen nichts als ein tonloses Pochen ist. 
In ihm, dem unermesslichen Menschen, seid ihr unermesslich, 
und in dem ihr ihn erschautet, erschaute ich euch und liebte euch.
Denn welche Entfernungen kann Liebe erreichen, 

die nicht in jener unermesslichen Sphäre sind? 
Welche Visionen, welche Erwartungen und welche Mutmaßungen 
können sich höher aufschwingen als ihr Flug? 
Wie eine riesige Eiche, bedeckt mit Apfelblüten, ist der unermessliche Mensch in euch. 
Seine Macht bindet euch an die Erde, sein Duft hebt euch in den Raum, 
und in seiner Dauerhaftigkeit seid ihr unsterblich. 
Euch ist gesagt worden, dass ihr gleich einer Kette so schwach seid wie euer schwächstes Glied. 
Dies ist nur die halbe Wahrheit. 
Ihr seid auch so stark wie euer stärkstes Glied.
Euch nach eurer geringsten Tat zu messen, heißt, 

die Kraft des Ozeans nach der Zartheit seines Schaums zu berechnen. 
Euch nach euren Misserfolgen zu beurteilen, heißt, 
den Jahreszeiten ihre Unbeständigkeit vorzuwerfen. 
Ja, ihr seid wie der Ozean, und obwohl fest verankerte Schiffe an euren Küsten die Flut erwarten, könnt ihr wie der Ozean doch nicht die Flut schneller herbeiführen.
Und auch wie die Jahreszeiten seid ihr, und obwohl ihr in eurem Winter euren Frühling leugnet, 

ruht doch der Frühling in euch und lächelt in seiner Benommenheit und ist nicht gekränkt.
Glaubt nicht, ich sage diese Dinge, damit der eine zu dem anderen sagt: 

"Er hat uns hoch gelobt. Er sah nichts als das Gute in uns." 
Ich drücke nur in Worten für euch aus, was ihr in Gedanken selber wisst. 
Und was ist Wissen in Worten anderes als ein Schatten wortlosen Wissens?
Eure Gedanken und meine Worte sind Wellen aus einem versiegelten Gedächtnis, 

das Bericht gibt von unseren gestrigen Tagen, und von den alten Tagen, 
da die Erde weder uns noch sich selber kannte, und von den Nächten, 
da die Erde in Verwirrung aufgewühlt war. 
Weise sind zu euch gekommen, um euch von ihrer Weisheit zu geben. 
Ich kam, um von eurer Weisheit zu nehmen: 
Und, seht, ich habe gefunden, was größer ist als Weisheit. 
Es ist ein Flammengeist in euch, der sich immer mehr steigert, während ihr, 
seiner Entfaltung ungeachtet, das Vergehen eurer Tage beklagt. 
Es ist das Leben auf der Suche nach Leben in Körpern, die vor dem Grab erzittern.
Hier gibt es keine Gräber. Diese Berge und Ebenen sind eine Wiege und ein Trittstein. 

Wann immer ihr an dem Feld vorbeikommt, in dem ihr eure Vorfahren beigesetzt habt, 
schaut richtig hin, und ihr werdet euch und eure Kinder Hand in Hand tanzen sehen. 
Wahrhaftig, ihr seid oft vergnügt, ohne es zu wissen. 
Andere sind zu euch gekommen, denen ihr für goldene Versprechungen, die sie euch auf euer Vertrauen hin gemacht haben, Reichtum, Macht und Ruhm gegeben habt.
Weniger als ein Versprechen habe ich gegeben, und doch seid ihr großzügiger zu mir gewesen. 

Ihr habt mir meinen tieferen Lebensdurst gegeben. 
Sicher gibt es kein größeres Geschenk für einen Menschen als das, 
was all seine Ziele zu brennenden Lippen und alles Leben zu einem Brunnen macht. 
Und darin liegt meine Ehre und meine Belohnung: 
Wann immer ich zum Trinken an den Brunnen komme, 
finde ich das lebendige Wasser selber durstig, und es trinkt mich, während ich es trinke.
Manche von euch haben mich für zu stolz und zu scheu gehalten, 

um Geschenke anzunehmen. 
Zu stolz bin ich wirklich, um Lohn anzunehmen, aber nicht, um Geschenke zu empfangen. 
Und obwohl ich Beeren in den Hügeln gegessen habe, 
als ich an euren Tisch geladen war, und im Säulengang des Tempels geschlafen habe, 
als ihr mir mit Freude Obdach gewährt hättet. 
War es zugleich nicht doch eure liebende Sorge um meine Tage und Nächte, 
die meinem Mund das Essen versüßte und meinen Schlaf mit Visionen umschloss? 
Dafür segne ich euch am meisten: Ihr gebt viel und wisst nicht, dass ihr etwas gebt. 
Die Güte dagegen, die sich im Spiegel anschaut, wird zu Stein, und eine gute Tat, 
die sich mit zärtlichen Namen nennt, gebiert einen Fluch. 
Und manche von Euch haben mich unnahbar und von meinem Alleinsein trunken genannt, 
und ihr habt gesagt: "Er berät sich mit den Bäumen des Waldes, aber nicht mit Menschen. 
Er sitzt allein auf Hügeln und schaut auf unsere Stadt herab." 
Wahr ist, ich bin auf die Hügel gestiegen und an entfernten Orten gewandert. 
Wie hätte ich euch sehen können, wenn nicht aus großer Höhe oder weiter Ferne? 
Wie kann man wirklich nah sein, wenn man nicht weit ist? 
Und andere unter euch schalten mich ohne Worte, und sie sagten: 
"Fremder, Liebhaber unerreichbarer Höhen, warum wohnst du in den Gipfeln, 
wo Adler ihre Nester bauen? 
Welche Stürme willst du in deinem Netz fangen, 
und welche phantastischen Vögel jagst du am Himmel? 
Komm und sei einer von uns! 
Steig herab und still deinen Hunger mit unserem Brot 
und lösche deinen Durst mit unserem Wein!" 
In der Einsamkeit ihrer Seelen sagten sie diese Dinge, 
doch wäre ihre Einsamkeit tiefer gewesen, hätten sie gewusst, 
dass ich nichts suchte als das Geheimnis eurer Freude und eures Schmerzes. 
Und nur nach eurem höheren Ich jagte, das durch den Himmel steift.
Doch der Jäger war auch der Gejagte, 

denn viele meiner Pfeile verließen meinen Bogen nur, 
um meine eigene Brust zu suchen. 
Und der Fliegende war auch der Kriechende, 
denn als meine Flügel in der Sonne ausgebreitet waren, 
war ihr Schatten auf der Erde eine Schildkröte.
Und ich, der Gläubige, war auch der Zweifler, 

denn oft habe ich den Finger in die eigene Wunde gelegt, 
damit mein Glaube an euch stärker und mein Wissen um euch größer werde. 
Und mit diesem Glauben und diesem Wissen sage ich, 
ihr seid nicht in euren Körpern eingeschlossen, noch an die Häuser der Felder gebunden. 
Das, was ihr seid, wohnt über dem Berg und treibt mit dem Wind. 
Es ist nicht etwas, das in der Sonne kriecht, um sich zu wärmen, 
oder Löcher ins Dunkle gräbt, um sicher zu sein, sondern etwas Freies, ein Geist, 
der die Erde umhüllt und sich im Äther bewegt.
Wenn dies unklare Worte sind, dann sucht nicht sie zu klären. 

Unklar und nebelhaft ist der Beginn aller Dinge, doch nicht ihr Ende, 
und ich hätte gern, dass ihr an mich als einen Beginn denkt.
Das Leben uns alles, was lebt, ist im Nebel gezeugt und nicht im Kristall. 

Und wer weiß, ob ein Kristall etwas anderes ist als Nebel in Zersetzung? 
Darum möchte ich, dass ihr in der Erinnerung an mich denkt: 
Was am schwächsten und verwirrtesten in euch scheint, 
ist das Stärkste und Entschlossenste. 
Ist es nicht euer Atem, der den Bau eurer Knochen aufgerichtet und gefestigt hat? 
Und ist es nicht ein Traum, an den keiner von euch sich erinnert, 
der eure Stadt baute und alles schuf, was darin ist? 
Könntet ihr nur den Strom dieses Atems sehen, 
würdet ihr alles andere nicht mehr sehen, 
und wenn ihr das Geflüster des Traums hören könntet, 
würdet ihr keinen anderen Ton mehr hören. 
Aber ihr seht nicht, und ihr hört nicht, und das ist gut. 
Der Schleier, der eure Augen umwölkt, wird gehoben werden von den Händen, 
die ihn webten. 
Und der Lehm, der eure Ohren füllt, wird durchbohrt werden von den Fingern, die ihn kneteten. 
Und ihr werdet sehen. 
Und ihr werdet hören. 
Doch werdet ihr nicht beklagen, die Blindheit gekannt zu haben, 
noch bedauern, taub gewesen zu sein.
Denn an jenem Tag werdet ihr den verborgenen Sinn in allen Dingen erkennen, 

und ihr werdet die Dunkelheit preisen, wie ihr das Licht preisen würdet. 
Nachdem er das gesagt hatte, schaute er um sich, 
und er sah den Lotsen seines Schiffes am Steuer stehen 
und nun auf die vollen Segel und dann wieder in die Weite schauen. 
Und er sagte: Geduldig, allzu geduldig ist der Kapitän meines Schiffes. 
Der Wind weht, und rastlos sind die Segel. 
Selbst das Ruder bittet um Lenkung, doch ruhig wartet mein Kapitän, 
dass ich schweige. 
Und meine Seeleute, die den Chor des offenen Meeres gehört haben, auch sie haben mir geduldig zugehört.
Nun sollen sie nicht länger warten. 

Ich bin bereit. 
Der Strom hat das Meer erreicht, 
und noch einmal drückt die große Mutter ihren Sohn an die Brust. 
Lebt wohl, Leute von Orfalis. 
Dieser Tag ist zu Ende. 
Er schließt sich über uns, wie sich die Wasserlilie bis zum nächsten Morgen schließt. 
Was uns hier gegeben wurde, werden wir bewahren, 
und wenn es nicht genügt, dann müssen wir abermals zusammenkommen 
und zusammen unsere Hände dem Geber entgegenstrecken. 
Vergesst nicht, dass ich zu euch zurückkommen werde. 
Eine kleine Weile noch, und meine Sehnsucht wird Staub und Schaum 
für einen anderen Körper sammeln. 
Eine kleine Weile noch, ein Augenblick des Ruhens auf dem Wind, 
und eine andere Frau wird mich gebären. 
Lebt wohl, ihr und die Jugend, die ich bei euch verbracht habe. 
Erst gestern begegneten wir uns in einem Traum.
Ihr habt in meinem Alleinsein gesungen, 

und aus eueren Sehnsüchten habe ich einen Turm in den Himmel gebaut. 
Doch nun ist unser Schlaf entflohen, und unser Traum ist vorbei, 
und die Morgenröte ist vorüber. 
Der Mittag steht über uns, und unser halbes Wachen ist zum volleren Tag geworden, 
und wir müssen scheiden. 
Wenn wir uns im Dämmer der Erinnerung noch einmal begegnen sollten, 
werden wir wieder miteinander reden, 
und ihr werdet mir ein tieferes Lied singen. 
Und wenn unsere Hände sich in einem anderen Traum begegnen sollten, 
werden wir einen weiteren Turm in den Himmel bauen. 
Mit diesen Worten gab er den Seeleuten ein Zeichen, 
und sofort lichteten sie den Anker 
und lösten das Schiff von seiner Vertäuung und fuhren gen Osten. 
Und ein Schrei erhob sich von den Menschen wie aus einer Brust, 
und er stieg in die Dämmerung und wurde wie von Fanfaren übers Meer getragen. 
Nur al-Mitra schwieg und schaute dem Schiff nach, 
bis es im Nebel verschwunden war. 
Und als die Menge sich zerstreut hatte, 
blieb sie noch allein auf der Kaimauer stehen 
und erinnerte sich in ihrem Herzen seiner Worte:
"Eine kleine Weile noch, ein Augenblick des Ruhens auf dem Wind, 

und eine andere Frau wird mich gebären." 


Einen HERZlich beRUHIGtEN TANZ mit den WELLEN des FREItags & viel FREUDE im Augenblick! ... ~♥~ ...

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen