Sonntag, 24. Mai 2015

~ Perspektiven: WORTlos geFÜHLt ~

"Wie fühlen sie sich mit der von ihrer Frau beschriebenen Situation?"
Tom dachte einen Augenblick nach.
Während er gerade dabei war sich zu sammeln, Worte zu suchen,
für ein Gefühl, das ihn in diese unangenehme Situation, auf diesen Stuhl
neben seiner Frau, in der Praxis einer Therapeutin brachte, ergriff seine Frau
energisch das Wort:
"Unwohl fühlt er sich. Sehen Sie, genau deshalb sitzen wir ja hier,
er kann nicht über seine Gefühle sprechen,
wahrscheinlich hat er nicht einmal welche. So geht das Tag aus Tag ein.
Ich frage ihn etwas, er antwortet nicht. Jedes Wort muss ich ihm aus der Nase ziehen.
Eigeninitiative Fehlanzeige. Gerade gestern, rief seine Mutter an, eine Freundin von
ihr war gestorben. Was glauben sie hat er gesagt? NICHTS hat er gesagt,
ausser dass es ihm Leid tun würde. Als ob das irgendetwas helfen würde ..."
Die Therapeutin unterbrach den Redeschwall seiner Frau mit einem:
"Gerne würde ich von ihrem Mann persönlich hören, wie er sich
gerade fühlt. Herr Kruse, wie fühlen sie sich?"
Tom bebte innerlich vor Wut, schon wieder war Lisa ihm über den Mund gefahren,
hatte für ihn gesprochen. Woher wollte sie eigentlich wissen, wie er sich fühlt,
und was hätte er seiner in Tränen aufgelösten Mutter sonst sagen sollen?
Welch`ein Hohn, dass er überhaupt hier sitzen musste, bei dieser Therapeutin.
Das tat er schliesslich auch wieder einmal nur für sie. Lisa hatte schliesslich
die fixe Idee, sie bräuchten eine Paartherapie um ihre Ehe zu retten.
Als wäre es nicht schon genug damit, dass er seit Wochen krank geschrieben
war, weil er plötzlich zusammenbrach, unterwegs von einem Geschäftstermin
in Berlin, mitten in der Nacht, nach einem 16 Stunden Tag im Aussendienst,
in einem Job, den er nur angenommen hatte um ihr das Leben bieten zu können,
das sie sich immer gewünscht hatte. 
Damit er am nächsten Tag Lisa zu Liebe mit zum Geburtstag ihrer Eltern gehen konnte.
Keinen blassen Schimmer hatte die Frau, die er geheiratet hatte, der er die
Welt zu Füßen legen wollte davon wie er sich fühlt.
Langsam überkam ihn der Verdacht, dass sie es auch gar nicht wissen wollte.
Wo war bloß die Frau geblieben, die ihm zuhören konnte, ihn verstand
wie kein anderer Mensch zuvor?
Die seine Träume teilte, seine Sorgen verschwinden liess,
die Frau nach der er sich sehnte,
deren Lächeln es ihm wert war, diesen öden Job,
die sechzehn Stunden Tage, die dämlichen Lackaffen mit denen er es täglich
zu tun hatte durchzustehen.
Ihr Lächeln war eines Tages verschwunden.
Genauso wie seine Freude.
In den letzten Monaten fragte er sich immer wieder bereits auf dem
Weg nach Hause, welche Streitigkeiten, Hiobsbotschaften ihn heute erwarten
würden und er sehnte sich danach einfach mal wieder alleine zu sein.
Mit seinen Freunden auf eine Entdeckungstour nach Südostasien zu gehen,
so wie er es früher auch getan hatte, während Lisa mit ihren Freundinnen
die Kunst & das Dolce Vita Italiens genoss.
"Tom, antworte doch endlich verdammt nochmal, wozu sonst sind wir hier?"
Lisas schriller Tonfall unterbrach Tom in seinen Gedanken,
er wollte schreien, sie schütteln, ihr sagen wie sehr sie sich verändert hatte,
dass er sehr wohl fühle, dass er sie nicht ertrug, so wie sie war, dass er sich gerade
nichts sehnlicher wünsche als endlich mal wieder frei zu atmen,
frei zu denken, frei zu sein, von all dem Druck, der sich auf ihre Beziehung legte.
Stattdessen erhob er sich wortlos vom Stuhl: "Entschuldigen Sie bitte, dass wir ihre Zeit
in Anspruch genommen haben, Frau Lehmann, ich habe noch zu tun,"
wandte sich seiner Frau zu: "Wir sehen uns dann zu Hause, Schatz"
und verließ die Praxis.











2 Kommentare:

  1. Wow, tolle Geschichte. Gibt mit Sicherheit viele Menschen, die sich jetzt gerade darin wiedersehen ... so wie ich auch. Danke!

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