Donnerstag, 12. November 2015

~ Achtung ~

In unregelmäßigen Abständen hörte sie in der Ferne ein Auto vorbeifahren,
während sie mitten in der Nacht durch das dunkle Waldrandgebiet
einer fremden Stadt irrte. Im hellen Licht des Tages mutete dieser
ländliche Ort beinah idyllisch an. Ein Lebenstraum vieler
junger Familien. Rot verklinkerte Hauswände, weisse Gartenzäune,
mit viel Liebe angelegte Vorgärten, in denen hin und wieder
ein liegengebliebenes Spielzeug Kinder vermuten liess.
Ein übersichtlicher Stadtkern, ein Einkaufzentrum, dass in ihrer
Wahrnehmung eher einem Miniaturgebäude der Zentren glich,
die ihr bekannt waren. Haben Städte Identitäten und sagen sie etwas
über ihre Bewohner aus?
Sie blickte auf, vor ihr spiegelte sich auf dem feuchten Gehweg
das Licht der Straßenlaterne. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche
und sah auf die Uhr. Der erste Zug fuhr erst in 3 Stunden,
zurück in die Wohnung, wo sich gerade diese unschönen Szenen
abgespielt hatten wollte sie auf keinen Fall.
Wie können Menschen, die sich lieben, so sehr die Achtung
voreinander verlieren? Kann da überaupt Liebe sein,
zwischen Menschen, die einander so gezielt verletzen,
die die Schwächen des Partners innerhlab von Sekunden erfassen
um mit kühler Überlegung exakt den wundesten Punkt zu treffen?
Können zwei Menschen, die einander lieben,
sich so verletzen?
All diese Fragen gingen ihr durch den Kopf.
Sie spürte wie heisse Tränen durch ihr kaltes Gesicht
herunterliefen. Warum nur hatte sie sich an diesem Abend
so spät noch in den Zug gesetzt, um zu ihm zu fahren?
War es die Verzeiflung in seiner Stimme gewesen,
diese Sehnsucht, die ihn an solchen Abenden so traurig
erschienen liess, oder war es der aggressive Unterton,
seine unterschwelligen Vorwürfe, die immer mitschwangen
in dem was er sagte, wie er es sagte.
Es war ihre Schuld, dass sie diese Fernbeziehung führten,
er hatte das nie gewollt.
Doch, verdammt, das hatte er und zwar in dem Augenblick,
als er sich dazu entschloss aus ihrer Begegnung eine Beziehung werden
zu lassen. Sie hatten so häufig darüber gesprochen, dass es für sie
in ihrer Situation, so kurz nach der Trennung von ihrem Mann,
in ihrem neuen Zuhause mit den Kinder einfach zunächst nicht
in Frage käme zusammenzuleben. Ja, auch sie hatte verzweifelte Augenblicke,
in denen die Sehnsucht ihr schier den Verstand raubte, auch sie
wünschte sich insgeheim in seinen Armen einzuschlafen,
neben ihm zu erwachen, an jedem Tag.
Noch mehr wünschte sie sich allerdings Ruhe,
nach den letzten Monaten, Ruhe für sich,
Ruhe für die Kinder, Ruhe für diese schwierige Situation.
Aber diese Ruhe gab er ihr doch, schliesslich liess er sie
am liebsten in den Augenblicken in Ruhe, die sie gemeinsam
verbringen konnten, auf die sie sich in all den Tagen dazwischen
freute, nach denen sie sich sehnte, die ihm aber plötzlich
wie ein Korsett vorkamen, er wollte sie lieben, wann ihm danach
war, er wollte sie sehen, wenn ihm danach war und er wollte
eben weg bleiben, wenn ihm danach war, vielleicht würde ihr das eines
Tages die Augen öffnen, wie wichtig er ihr war und dass sie einen Fehler
machte.
Sie hielt das für unnötige Machtspielereien, die sie immer mehr voneinander
entfernten auf der einen Seite und wann immer sie sich auf seine Art der
Machtspiele einliess, für das Feuer, die Leidenschaft, die
sie auf der anderen Seite miteinander teilten.
Solange Liebe und Leidenschaft einander beflügeln,
in einem mal mehr und mal weniger ausgewogenen
Verhältnis da sind, solange die Basis Vertrauen ist,
das wusste sie heute, kann eine Partnerschaft
das gut vertragen, belebt es sie, auf eine ganz besondere
Art und Weise, wenn jedoch nur noch Leidenschaft regiert,
Vertrauen fehlt, vielleicht nie wirklich da war, sondern
als Wunschvorstellung in Beiden existierte, dann hat die
Liebe keinen Nährboden und irgendwann stirbt sie.
In dieser Nacht war ihre Liebe gestorben, mit jedem Wort,
das sie wie ein Messer im Rücken traf, mit jedem Pfeil,
den sie zurückschoss, in den Kern seiner Wunde, starb
ein weiteres Gefühl, Vertrauen, Achtung, Wertschätzung,
nichts davon überlebte.
Irgendwann hatte sie es nicht mehr ausgehalten, sie hatte ihre
Tasche genommen, ihre Jacke vom Bügel der Garderobe gerissen
und fluchtartig die Wohnung verlassen.
Seitdem lief sie ziellos durch dunkle Nebenstraßen,
mit vom Wind zerzausten Haar, mit Kajal und Mascara getränkten
Tränenspuren in ihrem Gesicht und lauter Fragen in ihrem
Kopf, klärte sich nach und nach, warum sie an diesem
Punkt ihres Lebens gelandet war, was geschehen war,
dass sie sich in dieser Situation wiederfand und es
war ihr nie zuvor so bewusst, wie in diesem Augenblick,
dass sie soetwas NIE wieder erleben wollte.
Nie wieder wollte sie sich in eine Beziehung stürzen um nicht
allein zu sein, weil sie das Gefühl hatte jemanden zu brauchen,
oder gebraucht zu werden.
Langsam machte sie sich auf den Weg zum Bahnhof,
wo sie noch eine Stunde am Bahnsteig stand und
die vergangenen 2 Jahre Revue passieren lies,
bis schliesslich der Zug einfuhr. Sie öffnete
die Zugtür stieg die erste Stufe hinauf drehte sich noch einmal
um und verabschiedete sich gedanklich und emotional
von all den glücklichen und traurigen, leidenschaftlichen
und liebevollen, schrecklichen und berührenden
Augenblicken die sie hier gemeinsam erlebt hatten
und wusste, es würde kein Zurück geben, was
auch immer von jetzt an geschehen würde,
dieser Besuch war der letzte in diesem soeben
beendeten Lebensabschnitt.
Sie nahm die zweite Stufe, bog
links ab, liess sich müde in einen Sitz
des Zugabteils fallen und fuhr nach Hause.


~ Daniela Buchholz, Nov. 2015 ~




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