Sonntag, 8. September 2013

~ Kannst Du das SEHEN? ~

Es ist Samstag morgen kurz vor 9 Uhr.
Ich bin auf dem Weg zum Seminar, nachdem ich meine Kinder zu ihrer Oma gebracht habe,
mit einem ambivalenten Gefühl.
Es ist Wochenende, Familienzeit, sagt ein Teil in mir.
Der andere Teil freut sich auf diese Supervision und die Begegnung mit den Menschen dort.


Ich sitze im Bus und blicke aus dem Fenster, der Himmel ist grau, neben mir fahren Autos.
Im Bus ist es still, kein Mensch spricht ein Wort.
Ich habe den Eindruck, während der 5 Haltestationen, bleibt ihre Mimik bewegungslos.
Ich steige um in den Zug, hier ist es lauter, Menschen unterhalten sich, Mobiltelefone klingeln, Zeitungen rascheln und ich höre Koffer über den Gang rollen.


Am Hauptbahnhof einer benachbarten Großstadt steige ich aus. Auf dem Weg zur U-Bahn begegnen mir Menschen, Menschen die sich in Eile, den Blick zum Boden gesenkt ihren Weg durch die Menge bahnen. Menschen die aneinander vorbei huschen, ohne sich gegenseitig wahrzunehmen, mit der Masse verschwimmende Individuen. Ich sehe Menschen, ich sehe Blicke und ich spüre Energien.


In Gedanken versunken sehe ich auf, in das Gesicht einer Frau mittleren Alters, ich erschrecke.
Neben einem von Tränen und Schminke verschmierten Auge starrt mich ein verquollenes, blau rotes Auge an. Die Frau sieht mich nicht an. An ihrer Seite ein Mann, er ist kleiner und zierlicher als sie.
Er wankt beim gehen und sie würdigen sich keines Blickes.
Noch in Gedanken bei dieser Frau, begegnet mir ein junges Pärchen, beide schwarz gekleidet mit Bierflaschen in der Hand. Ich höre das Mädchen sagen, dass sie gern nach Hause gehen würde, ihr Vater sie allerdings rausgeschmissen habe, sodass sie erstmal nicht wisse wo sie hin soll.


Ich spüre Schwere und setze mich.
Einige Minuten später setzt sich ein Mann zu mir, in Leder gekleidet, mittleren Alters.
Ich sehe in stahlblaue Augen, mit tiefen schwarzen Rändern.
Ich rieche Alkohol und ich spüre Sehnsucht in seinem Blick.
Der Mann dreht sich um, sieht mich einen Moment an und sagt: „Ich bin Junkie.“
Ich sehe ihn an und sage nichts.
Ob ich nicht gehört habe, fragt er mich.
Ich antworte, dass ich ihn gehört habe.
Ob ich nicht aufstehen wolle, fragt er mich.
Nein, das will ich nicht. Was ihn zu dieser Frage veranlasse, frage ich.
Niemand will neben einem Junkie sitzen, antwortet er.
Dann sei ich dieser „Niemand“, antworte ich.
Er überlegt einen Moment und lächelt.
In diesem Augenblick fährt seine Bahn ein, er steht auf.
Ich wünsche ihm einen schönen Tag.
Er sagt nichts.
Als er einsteigt, dreht er sich noch einmal um und bedankt sich.
Die Bahn fährt los.


Ich stehe auf, sehe mich um und sehe Menschen.
Viele Menschen, die dort stehen und warten, auf ein Transportmittel, dass sie an einen Ort bringt. Ich frage mich, welche Geschichte die stahlblauen Augen, in die ich eben blickte wohl zu erzählen haben.
Ich frage mich, wie viel Leid Menschen zu ertragen im Stande sind.


Ich bin traurig.
Eine Zeile aus einem Liedtext („So weit weg“ http://www.youtube.com/watch?v=cHQIfFOQrew   ) von Vega kommt mir in den Sinn: „Ich seh` sie laufen diese Kinder der Nacht!“


Beim Einstieg in meine Bahn, erblicke ich ein mir bekanntes Gesicht, eine freundliche Begrüßung, eine Umarmung.
Während mir die Begegnungen am Bahnhof nicht aus dem Sinn gehen wollen, fühle ich eine tiefe Dankbarkeit in mir. Für mein Leben, meine Kinder, meine Familie, meine Freunde und für die Freiheit wählen zu können, wie ich LEBE.


Eine weitere Textzeile aus einem weiteren Lied kommt mir in den Sinn:


„Ein ganzes Land kauft sich schneeweiße Autos, um den Dreck nicht zu spüren.“


Das Lied heisst „Kannst Du es sehen“ http://www.youtube.com/watch?v=aSgqA2lSCfw


Ja, Vega feat. Timeless.
Ich kann es sehen, ich spüre den Dreck, ich sehe die Ketten aus Silber & Gold und ich bin mir sicher ein jeder von uns würde gut daran tun, seinen Blick zu öffnen für sein eigenes und damit auch das Schicksal jedes einzelnen Menschen, um von dort einmal zu überlegen ob, wie und wozu er lebt, um gemeinsam Perspektiven zu schaffen, für jeden einzelnen Menschen.
Einfach mal hinHÖREN, mitFÜHLEN & hinterFRAGEN!





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